Reiner Schmid lebt in Lindach, wo er seit Jahren in der alten Schreinerwerkstatt seiner Familie als Holzbildhauer arbeitet.
Keine Biografie eines Nomaden also.
Und doch könnte man Reiner Schmid in gewisser Weise als Nomaden bezeichnen. Als sesshaften Nomaden, falls es so etwas gibt.
Seine Werke der letzten Jahre beschäftigen sich allesamt mit Mobilität und Sesshaftigkeit. Sie tun das allerdings in einer fast schon privaten Symbolsprache, die es hinter den scheinbar harmlosen, spielerischen Motiven zu entdecken gilt. Bei allen Versuchen, die Motive zu entschlüsseln, muss man sich jedoch stets bewusst sein, dass die Bilder nicht vollständig in gesprochene oder geschriebene Sprache übersetzt werden können. Wie jede gegenständliche Kunst haben Reiner Schmids Reliefs zwar ein konkret zu benennendes Motiv, sie erschöpfen sich aber nicht in einer eindeutigen Symbolik. Vielmehr oszillieren sie zwischen tragikomischen Erzählelementen und einer aus künstlerischer Methode und bildnerischer Logik geborenen Komposition. Wo lässt sich hier nun der Reisende, der Nomade in den Werken erkennen?
Dazu ist es hilfreich, ein wenig über die Arbeitsweise Reiner Schmids zu erfahren. Er zieht wie ein Nomade auf der Suche nach Weideflächen quer durch sämtliche Wissenschafts- und Erkenntnisbereiche. Ist Cervantes abgegrast, streift er weiter zu Deleuze, entdeckt in einer Zeitschrift Fotografien und Textfragmente, die ihm weiterhelfen, wandert über wissenschaftliche Publikationen zur Poesie, gelangt zu östlicher Mythologie um schließlich seine Reiseerfahrungen geschult an Foucaults Ordnung der Dinge in der heimischen Werkstatt festzuhalten. Sind die saftigen Weiden wieder nachgewachsen, zieht der Nomadenkünstler erneut los.
Er reist jedoch auch leibhaftig, nicht nur im Kopf, im Gespräch, in Büchern. Russland, Tansania, Toskana... Reisen und arbeiten, Ideen sammeln und an fremden Orten produzieren und präsentieren.
Und wie die klassischen Bildungsreisenden oder die Entdecker Humboldtscher Tradition führt er Reisetagebücher von gedanklichen und tatsächlichen Reisen und berichtet Freunden in Briefen von seinen Entdeckungen. Oder pflegt Bekanntschaften zu Reisenden, bleibt zuhause und hält Kontakt mit reisenden Freunden. Einen Einblick können hier beispielhaft die „Gespräche" geben, die in der Vitrine zu sehen sind. Aus dieser Kommunikation mit Freunden über und durch das Medium der gesammelten Objekte entstehen in Skizzen die Ideen für neue Bildmotive.
Zurück zu den Reisen. Was bringt ein Künstler mit von diesen Reisen, im Kopf oder in der Wirklichkeit? Texte und Bilder. Selbst gefertigte und gesammelte. Gezeichnete, fotografierte und collagierte. Diese werden dann zu Holzskulpturen und Reliefs aus massiven Holzplatten verarbeitet. Von allen möglichen Bildwerken an einer Ausstellungswand ist das massive hölzerne Relief sicher eines, das am wenigsten als leichtes Reisegepäck taugt. Skizzen, Notizen und Bildfragmente auf Holzplatten lassen sich nur schwer im Tornister verstauen. Der bildhauernde Nomade ist stets auch gefesselt an seine Heimat. Wenngleich ich Reiner Schmid schon an allen möglichen Orten seine Reliefs habe bearbeiten sehen. Im Schloss von Kirchberg an der Jagst beispielsweise...
Zu dem Kontrast von Reisen und Sesshaftigkeit tritt also durch das Material der Gegensatz von Leichtigkeit und Schwere beispielsweise bei einer hölzernen Plastiktüte. Ein Gegensatz, den Reiner Schmid auch in seinen „Wanderausstellungen", der kurzzeitigen Präsentation massiver Skulpturen und Bilder an unterschiedlichsten Orten thematisiert. Die Wanderausstellungen werden von ihm wiederum mit einem Blick für die Fülle der interessanten Details, die unseren Alltag ausmachen, fotografiert und zu neuen Bildern verarbeitet.
Einige der von Reiner Schmid zusammengetragenen Reisedokumentationen sind also hier in dieser Galerie in einer Enzyklopädie des Reisens zu sehen. Eine Enzyklopädie ist ein umfassendes Nachschlagewerk, das den Wissensstand zu einem Thema möglichst umfassend dokumentiert und systematisch anordnet. Nun ist es mit einer Systematik leider nicht immer so leicht. Wer sich bereits die Mühe gemacht hat, das Wissen anderer Kulturen als unserer mitteleuropäischen oder anderer Zeiten als der gegenwärtigen zu betrachten, der wird feststellen müssen, dass chronologische oder alphabetische Ordnungen keinesfalls die einzige Möglichkeit einer sachlichen Anordnung darstellen. Michel Foucault zitiert dazu Jorge Luis Borges, wenn er von einer chinesischen Enzyklopädie schreibt, in der die Tiere wie folgt gruppiert werden:
a) Tiere, die dem Kaiser gehören,
b) einbalsamierte Tiere,
c) gezähmte,
d) Milchschweine,
e) Sirenen,
f) Fabeltiere,
g) herrenlose Hunde,
h) in diese Gruppierung gehörige,
i) die sich wie Tolle gebärden,
k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind,
I) und so weiter,
m) die den Wasserkrug zerbrochen haben,
n) die von weitem wie Fliegen aussehen.
Reiner Schmid geht in seiner Auswahl der Motive und der Kombination in den Ausstellungen bei seiner Enzyklopädie des Reisens eher assoziativ vor. So geschieht es, dass er sich in einigen seiner Arbeiten mit Raumfahrt und Science Fiction auseinandersetzt. Andere Motive beziehen sich auf die Sagen über Odysseus. Oder beschäftigen sich mit den Handelswegen unserer globalisierten Welt, die für ihre städtischen Zivilisationen Blumen aus Timbuktu importiert.
Der Beutel als Transportmöglichkeit von Gepäck kann über seine Funktion hinaus auch Souvenircharakter besitzen. Und wer auf Reisen geht, sollte an seinen Proviant denken. Dosenfisch erweist sich dabei als billige und haltbare Nahrung, die in allen Ländern zu kaufen ist.
Die letzte Reise trat Ophelia an, aber auch Ken Saro Wiwa, der hingerichtet wurde. Der gebastelte Discman in der Vitrine stammt übrigens aus New Yorks Chinatown, er dient normalerweise beim Begräbnis als Grabbeigabe.
Und so mancher bereist ein fernes Land nur als Mitstreiter einer Armee, die kommt, vernichtet oder stirbt, aber doch nicht bleiben kann und darf. Beziehungsweise er reist zwangsweise, als Zivilist, als Vertriebener, interniert in einem Barackenlager. Oder ist dieses Motiv doch ganz anders zu verstehen? Handelt es sich um Warenlager für Güter aus fremden Ländern? Vielleicht eine Ferien-Reihenhaussiedlung für Pauschalreisen?
Auch das Flugzeug am Himmel spielt mit der Mehrdeutigkeit: Bomber, Flugzeugabsturz, Hiroshima, Urlaub in Übersee, 11. September oder Geschäftsreise eines Managers... Entfaltet sich der Bremsfallschirm einer Raumkapsel beim Eintritt in die Atmosphäre oder handelt es sich um den Flügel eines aus dem Kokon schlüpfenden Schmetterlings? Vieles ist möglich. Hören wir auf die Stimmungen und Klänge, die der Künstler uns auf dieser assoziativen Klaviatur vorspielt. Und vergessen wir dabei bei allem Ernst, aller Betroffenheit, die Hinrichtung, Krieg und Katastrophe in uns auslösen, nicht die spielerische Heiterkeit, die diese tragikomischen Fragmente unterschiedlichster Reisen ausstrahlen.
So kann sich letztlich jeder Betrachter auf seine eigene Reise begeben. Doch Vorsicht. Wer diese Reisen ernsthaft unternimmt, kommt vielleicht nicht mehr als derselbe zurück, der er bei der Abreise war. Goethe ließ dazu Ottilie in den Wahlverwandtschaften in ihr Tagebuch schreiben: Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet, der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger alltäglicher Verbindung sieht. Aber auch er wird ein anderer Mensch. Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.
Manchmal fallen einem nach einer solch großen Reise die alltäglichsten Dinge zuhause als völlig ungewöhnlich auf. Aber keine Angst davor, es ließe sich ja durchaus als Chance verstehen, wenn eine Reise in der Kunst in der Lage wäre, uns so zu verändern... Probieren wir es aus.
Klaus Ripper
The site was built with Mobirise